Ein offener Brief an die österreichische Antisemitismuskonferenz

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Von Tina Adcock






In Österreich fand am 21. November 2018 eine Antisemitismuskonferenz statt, zu der auch das Kommen von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu angekündigt worden war. Dieser sagte seine Teilnahme wegen der politischen Spannungen in seinem Land zwar kurzfristig ab, sendete allerdings eine Videobotschaft, in der er unter anderem davon sprach, dass „bösartige Anstrengungen unternommen wurden, um den jüdischen Staat zu dämonisieren. Das stellt eine neue Form von Antisemitismus dar.“ Weiter betonte Netanjahu, dass Antizionismus mit Antisemitismus gleichzustellen wäre.

In einem offenen Brief sprachen sich nun 35 bekannte Israelis gegen die Aussagen Netanjahus aus und teilten der Öffentlichkeit mit: „Es ist absurd und unangebracht Antizionismus mit Antisemitismus zu identifizieren.“ Die Unterzeichner riefen die Teilnehmer der Konferenz dazu auf, den Unterschied zwischen legitimer Kritik an Israel und Antisemitismus zu betonen, anstatt den „Kampf gegen Antisemitismus als Deckmantel  für legitime Kritik an der Okkupation und Verletzung von Menschenrechten der Palästinenser zu missbrauchen.“ Netanjahu dagegen erinnerte den österreichischen Bundesanzler Sebastian Kurz daran, dass sein Land, neben sieben anderen europäischen Ländern, die Arbeitsdefinition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) angenommen hat, die unter anderem folgende Passage enthält: „Die Ablehnung des Rechts auf Selbstbestimmung des Jüdischen Volkes, z. B. durch die Aussage, dass die Existenz eines Staates Israel rassistisch sei“, ist als Antisemitismus zu identifizieren. Auch die österreichische Außenministerin Karin Kneissl sprach vor der Konferenz von einem starken antisemitischen Element im Antizionismus, weswegen sich die Konferenz damit auch explizit beschäftige.

Doch worin liegt hierbei nun der wahre Kern und welche der beiden Seiten hat Recht oder Unrecht? Wie hat es der Begriff „israelkritisch“ sogar in den DUDEN geschafft, während es einen vergleichbaren Begriff für Belgien, den Iran oder Nordkorea nicht gibt? Die Definitionen von Antisemitismus sind sowohl zahlreich als auch inhaltlich divergent. Zieht man etwa den DUDEN zu Raten, so wird er als „1. Abneigung oder Feindschaft gegenüber den Juden […] 2. [politische] Bewegung mit ausgeprägten antisemitischen Tendenzen“ versucht zu beschreiben. Dass diese Definitionen jedoch sehr schwammig formuliert sind, zeigt schon der Blick auf die Entstehungsgeschichte des Begriffs. Er wurde gegen Ende des 19 Jahrhunderts geprägt und entspringt historisch gesehen dem Antijudaismus. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass Antijudaismus keine kulturellen, nationalistischen oder protorassistischen Grundlagen hat, sondern einzig auf religiösen und später auch ökonomischen Vorbehalten fußt. Neben den genannten Faktoren lässt nach Auschwitz eine Judenfeindschaft beobachten, die der Erinnerungsabwehr entspringt und von der Forschung als sekundären Antisemitismus bezeichnet worden ist. Insgesamt stellt der Antisemitismus eine Weltanschauung dar, die es dem Antisemiten ermöglicht, alle problematischen und krisenhaften Erscheinungen der Gesellschaft zu rationalisieren, indem er sie auf die Juden projiziert, an ihnen verdammt und bekämpft.

Auch die deutsche Bundesregierung übernahm am 20. September 2017 die Definition der IHRA, die auch Ausführungen hinsichtlich antisemitisch motivierter Israelkritik einschließt. so heißt es in der Definition: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen. […] Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.”

Kritik an Israel ist theoretisch per se keine Form des Antisemitismus, wird aber häufig dafür missbraucht. Der Unterschied besteht darin, ob derjenige, der Israel kritisiert, dazu befähigt ist, seine eigene Weltsicht zu hinterfragen, Fakten zur Kenntnis zu nehmen sowie gegebenenfalls die eigene Position revidieren zu können. Insofern Antisemitismus ein geschlossenes Weltbild darstellt, ist antisemitisches Denken mit Kritik nicht in Einklang zu bringen und schließt jede Form der Kritikfähigkeit – insbesondere in Gestalt der Selbstkritik – kategorisch aus. Um diesem Tatbestand gerecht zu werden, wurde der sogenannte 3D-Test entwickelt, mit dessen Hilfe die jeweilige Kritik einer Prüfung unterzogen werden kann. „3D“ steht hierbei für drei Merkmale, die eine antisemitische Kritik aufzeigen:

  1. Dämonisierung des jüdischen Staates — z. B. der Vergleich Israels mit dem Nazi-Regime oder der Vergleich von Gaza bzw. der Flüchtlingslager mit Konzentrationslagern, oder gar mit Auschwitz.

  2. Doppelmoral — z. B. dass Israel von der UN für Verletzungen der Menschenrechte kritisiert wird, diejenigen Staaten aber nicht, die jeden Tag Verbrechen begehen (z. B. China, Iran, oder Syrien).

  3. Delegitimierung — die Verweigerung der Anerkennung der Existenz Israels.


Die Europäische Union strich darüber hinaus noch folgende Punkte hervor:

  1. Das Nutzen antisemitischer Bilder und Symbolen, um den Staat Israel oder die Israelis zu beschreiben.

  2. Alle Juden als Kollektiv für die Handlungen Israels verantwortlich zu machen.


Die 3D-Methode verweist auf den Charakter des Antizionismus, der Israel das Existenzrecht abspricht und somit den Juden das Recht auf eine nationale Selbstbestimmung verweigert. Juden dieses Recht abzusprechen, während es für nichtjüdische Nationalbewegungen Geltung besitzen soll, ist antisemitische Diskriminierung. In der Diskussion scheint oft nicht präsent zu sein, dass Antisemitismus nicht nur den Holocaust, die SS, Auschwitz und Hitler betrifft, sondern dass zeitgenössische Antisemiten viel subtiler argumentieren. Wenn sie beispielsweise davon sprechen, dass Israel die größte Gefahr für den Weltfrieden darstelle, drücken sie damit aus, die Menschheit wäre ohne Israel besser dran: Nicht nur wird er jüdische Staat hier als zum Übel schlechthin stilisiert, vielmehr wird seine Zerstörung propagiert – und das auch noch im Sinne der Friedenssicherung.

Doch niemand, der solche Aussagen tätigt, möchte von sich sagen, er sei Antisemit. Der Ausspruch des Historiker Leon Poliakov: „Israel ist der Jude unter den Staaten“ drückt diesen Sachverhalt aus, insofern nicht mehr so sehr dem einzelnen Juden wird das Stereotyp des Brunnenvergifters, des Blutsaugers, des Weltbrandstifters und des Kindermörders auferlegt wird, sondern dem jüdischen Staat Israel als Stellvertreter aller Juden weltweit – womit sich der Antisemitismus zugleich als Staatskritik bemäntelt, die mit Ressentiments gegen Juden nichts zu tun habe. Über keinem anderen Staat gibt es jedoch eine ähnlich gelagerte Debatte wie über Israel. Dass z. B. China in Tibet einmarschierte und es weiterhin besetzt hält, kümmert die Weltgemeinschaft wenig. Dass Jordanien die Westbank nach dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 annektierte, alle Juden vertrieb oder tötete, Synagogen und jüdische Wohnhäuser zerstörte und kein Jude mehr an der Kotel beten durfte, kümmerte auch beinahe niemanden.

Den Autoren des Briefes an die österreichische Antisemitismuskonferenz jedenfalls hätte es gut angestanden, die Realität genauer zu betrachten, anstatt der Israelkritik unter Aufstellen eines Pappkameraden einen Freibrief auszustellen. Nicht nur ist es keineswegs tabuisiert und von  Antisemitismusvorwürfen bedroht, den jüdischen Staat zu kritisieren – wie ein kurzer Blick in eine beliebige Tageszeitung oder Nachrichtensendung zeigen könnte; vielmehr dient diese Kritik selbst nur allzu oft als Deckmantel für antisemtische Ressentiments.