In Jerusalem trifft Audiatur-Online Markus Blechner, den Honorarkonsul Polens in Zürich, um ihn zu einer einzigartigen Sammlung zu interviewen − der Enthüllung eines Privatarchivs mit Tausenden von Dokumenten, die das weitgehend unbekannte Kapitel einer spektakulären Rettungsaktion für Juden aus dem von Nazideutschland besetzten Polen belegen. Hauptakteure waren der Schweizer Jude Chaim Israel Eiss und Dr. Julius Kühl, ein jüdischer Diplomat aus Polen, die unter Schutz des Gesandten der polnischen Exilregierung in Bern, Aleksander Ladoś und dessen Mitarbeitern, Konstanty Rokicki und Stefan Ryniewicz, eine Reihe von diplomatischen Vertretern südamerikanischer Staaten – u.a. den Honorarkonsul von Paraguay Rudolf Hügli – bestachen, um Pässe für die Unglücklichen zu besorgen.
Die Namen des Schweden Raul Wallenberg, des Italieners Georgio Perlasca, des Schweizers Carl Lutz und des Japaners Tiune (Sempo) Sugihara sind der interessierten Öffentlichkeit weitgehend bekannt. Sie alle waren Diplomaten, die ihr Leben und ihre Freiheit riskierten, um Juden mit falschen Papieren die Flucht aus dem von Nazideutschland besetzten Ost- und Mitteleuropa zu ermöglichen. Weniger bekannt ist die spektakuläre Hilfsaktion des Schweizer jüdischen Philanthropen Chaim Israel Eiss und seiner Helfer, die in den Jahren bis 1943 mehreren Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Juden aus dem Warschauer Ghetto und anderen Orten das Leben rettete.
Die Hintergründe über dieses großangelegte Rettungsnetzwerk erfährt Audiatur-Online von Markus Blechner, dem Sohn einer bekannten jüdischen Familie aus München, Schweizer Bürger und Honorarkonsul Polens in Zürich, der erst wenige Tage zuvor angereist ist, um die Schätze des Eiss-Archivs persönlich in Augenschein zu nehmen.
Die Drahtzieher des Unternehmens
Israel Eiss wurde als eines von zehn Kindern seiner Familie im galizianischen Istrik (poln. Ustrzyki) geboren. Eine Diphtherie-Epidemie raffte neun seiner Geschwister dahin. Danach gaben die chassidischen Eltern ihrem einzigen überlebenden Sohn auf Anraten des Rabbis von Sadigura den zusätzlichen Vornamen »Chaim« − das Leben. Später emigrierte Eiss in die Schweiz, wo er nicht nur einer der Mitgründer der orthodoxen Partei »Agudat Israel«, sondern auch ein erfolgreicher und wohlhabender Geschäftsmann und großer Wohltäter wurde. 1943 starb Eiss, auf dem Höhepunkt seines Wirkens im Alter von knapp 67 Jahren an einem Herzinfarkt, »aus Herzschmerz und Erschöpfung, weil er jahrelang rund um die Uhr gearbeitet hatte, um seine unter der Schreckensherrschaft des Dritten Reiches verbliebenen Glaubensgenossen zu retten und den Gedanken an deren Schicksal nicht länger ertragen konnte…«, so Shoshanna Goldfinger, eine Nachfahrin von Chaim Israel Eiss, die in ihrem Artikel berichtet, nicht einmal für die täglichen Mahlzeiten habe sich der Urgroßvater in jenen Jahren mehr die Zeit genommen.
Eine weitere zentrale Figur des Rettungsnetzwerks und Eiss‘ rechte Hand war wie erwähnt Dr. Julius Kühl, in jenen Jahren Mitarbeiter der polnischen Gesandtschaft. Sein Zuständigkeitsbereich waren jüdische Flüchtlinge und internierte Angehörige des polnischen Militärs. Dazu Honorarkonsul Blechner: »Kühl, den ich noch persönlich kennenlernen durfte, war ein hochbegabter jüdischer Junge aus Polen, der von seinen Eltern in die Schweiz geschickt worden war, um dort zu maturieren und Jura zu studieren, wie ich hörte, am Züricher Minerva-Institut. Nach Kriegsausbruch konnte er nicht mehr nach Polen zurück und blieb als Flüchtling in der Schweiz.«
Tatsächlich war Eiss einer der ersten Menschen im unbesetzten Europa, die bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt über die brutale Vernichtungsmaschinerie der Nazis auf polnischer Erde informiert waren.
Das Archiv und seine Geheimnisse
Auf dem Dachboden seines Zürcher Hauses verwahrt blieben in erstaunlich gutem Zustand die Tausenden von Dokumenten, deren Sichtung heute Licht in das Wesen und die Funktionsweise seiner umfangreichen Rettungsaktion bringen soll. Der Großteil davon wurde später bei ihrer Auswanderung von seinen Erben, streng orthodoxen Juden, mit nach Jerusalem genommen und befindet sich noch heute in deren Privatbesitz. Es handelt sich um Kopien und Schriftstücke auf Polnisch, Deutsch, Spanisch (Portugiesisch) und Jiddisch, die in naher Zukunft gesichtet, geordnet und übersetzt werden sollen. Darunter nicht zuletzt fünfzig paraguayische Blankopässe, die offenbar nicht mehr ausgestellt werden konnten.
»Wir haben einen Berg paraguayischer Reisepässe im Original gesichtet, zum Teil mit Fotografien ganzer Familien, zum Teil für Einzelpersonen, und weiter Briefe, Zahlungsbelege und zahlreiche Namenslisten. Eine davon ist besonders interessant: es handelt sich um vierzig bis fünfzig Schreibmaschinenseiten mit von eins bis 3880 durchnummerierten Namen, Geburtsdaten und Adressen von Personen. Dabei lagen davon getrennt und ebenfalls durchnummeriert, auf Bögen aufgeklebt oder sorgfältig in kleinen Einzelkuverts verwahrt, die zu diesen Listen gehörenden Passfotos. Wir verstanden, dass das die Listen für noch nicht ausgestellte Pässe waren.«
»Abgesehen davon haben wir auch abgestempelte und zensurierte Briefe gesehen, die aus dem Ghetto nach Zürich geschickt worden waren, zum Teil zu ganz anderen Belangen. Viele dieser Korrespondenzen war natürlich verschlüsselt.«
Als Beispiel dafür diene ein Schreiben, das Eiss kurz nach Kriegsausbruch an die Leitung von »Agudat Israel« in den USA weiterleitete: »Unser Freund, Rabbi Alexander Zusha Friedman schrieb mir im Namen von Herrn Mekayem Nefesh [Hebräisch: Lebensretter] einen Dankesbrief, und darin auch, dass Herr Chalelei Raav [Hebräisch: am Hungerstod Verstorbene] in den Heimen unserer Freunde ein häufiger Gast ist.«
Wie funktionierte das System?
»Wir stehen noch ganz am Anfang. Es ist wie ein riesiges Puzzle, das sich uns erst ganz allmählich erschließt. Um den Ablauf und die Hintergründe der Aktion zu verstehen, müssten wir jedes einzelne Dokument analysieren. Solche Unterlagen liegen auch in der Schweiz, in Amerika und an anderen Orten. Etwa achtzig Prozent auf Deutsch und zehn Prozent auf Jiddisch, viele davon handschriftlich, ein Teil jedoch schon damals von Chaim Eiss auf einer Schreibmaschine mit hebräischen Buchstaben getippt«, erklärt Markus Blechner.
»Mit Hilfe von Dr. Kühl und anderen polnischen Diplomaten schloss Eiss Kontakt zu einer Reihe von diplomatischen Vertretern südamerikanischer Staaten in der Schweiz, darunter dem Honorarkonsul von Honduras, einem Schweizer namens Alfonso Bauer, dem Honorarkonsul von Paraguay Rudolf Hügli, ebenfalls Schweizer und Notar in Bern. Involviert waren auch George Mantello (ursprünglich Josef Mendel) der Generalsekretär am Genfer Konsulat von El Salvador und, in kleinerem Umfang, offenbar auch Vertreter der Staaten Bolivien, Peru und Argentinien.
Das Verfahren war wie folgt: zunächst wurden auf unterschiedlichste Weise Namenslisten und Fotografien aus dem Ghetto herausgeschmuggelt, zum einen mit Hilfe ausländischer Diplomaten, darunter angeblich sogar der Berner Nuntius des Vatikans, zum anderen durch bestechliche SS-Leute, und gelangten auf Umwegen nach Zürich. Weiter gab es damals noch eine Ghettopost, also eine deutsche Post im Ghetto, die erstaunlich gut funktionierte.«
»Dr. Kühl brachte die Dokumente zum polnischen Konsulat in Bern, wo sie von Konsul Konstanty Rokicki ausgefüllt wurden. Aufgabe des Beraters Stefan Ryniewicz war es, die lateinamerikanischen Botschaften zu überzeugen, die Aktivitäten ihrer Konsuln geflissentlich zu »übersehen«.
Die Originale dieser Pässe blieben immer auf den zuständigen Konsulaten in Bern, und notariell beglaubigte Fotokopien wurden, ebenfalls auf komplizierten Umwegen, wieder nach Polen zurückgeschmuggelt. Sie dienten als Nachweis, dass die betreffenden Personen eine der genannten südamerikanischen Staatsbürgerschaften besaßen. Diese Kopien wurden den Deutschen vorgelegt, mit der Forderung, die angeblichen Passbesitzer ausreisen zu lassen, damit sie sich dann in Bern ihre Originalausweise abholen, und in ihre vermeintlichen Heimatländer weiterreisen könnten. Dass man diese Originale nicht gleich nach Polen schickte, beruhte auf folgender Überlegung: auch die Schweizer Behörden hatten das Spiel längst durchschaut und beschwerten sich bei Ladoś, dem Gesandten der polnischen Exilregierung. Damit es nicht hieße, man habe Pässe ins Generalgouvernement Polen geschickt, begnügte man sich mit Fotokopien. Fotokopien zu versenden, ist keine illegale Handlung.
Aleksander Ladoś war eine wichtige Schlüsselfigur, die das Ganze, offenbar mit Einverständnis der polnischen Exilregierung in London, toleriert, koordiniert und geschützt hat. Ohne ihn wäre das ganze Rettungsunternehmen unmöglich gewesen. Er wurde, auch das ist aktenkundig, mehrmals ins Schweizer Außendepartment vorgeladen, wo man sich über ›dieses Treiben‹ beschwerte. Weniger hochrangige Attachés wurden auch zum Chef des Polizeidepartments und Leiter der Fremdenpolizei, dem berühmt-berüchtigten Dr. Rothmund zitiert. Der war wirklich ein akuter Antisemit und ließ nichts unversucht, um die Rettungsaktionen zu unterbinden und vor allem gegen Dr. Kühl vorzugehen. Vergeblich versuchte er mindestens zweimal, Ladoś zu zwingen, Kühls Diplomatenstatus aufzukündigen.«
Und die Deutschen akzeptierten diese Dokumente?
»Ja. Man hat sicher in Berlin rückgefragt, aber Paraguay war ein befreundetes Land, und Tatsache ist: Sie haben Menschen ausreisen lassen. Ob es nun Hunderte oder Tausende waren, kann ich derzeit wirklich noch nicht sagen. Wir werden an Hand der Namen noch umfangreiche Nachforschungen darüber anstellen müssen, was aus den Besitzern dieser Pässe geworden ist. Von einer spezifischen Person zum Beispiel wissen wir, dass sie zunächst nach Mauthausen kam, ihr weiteres Schicksal liegt im Dunkeln. Es ist eine enorm aufwendige Kleinarbeit, herauszufinden, was schlussendlich mit den auf den Listen und in den Pässen genannten Menschen geschehen ist.«
»Zu einem gewissen Zeitpunkt wurde die ganze Aktion abgebrochen, weil die Deutschen das Spiel durchschaut hatten und diese Dokumente nicht länger anerkannten. Von den Ghettoinsassen, die bereits im Besitz solcher Pässe waren, wurde ein Teil noch herausgelassen, ein anderer in ein Sonderlager für privilegierte Gefangene außerhalb Warschaus gebracht, um später eventuell gegen in Südamerika verhaftete Deutsche ausgetauscht zu werden. Andere Besitzer solcher Pässe wurden jedoch bereits dort liquidiert oder nach Auschwitz verschickt. Wir wissen also derzeit noch nicht, wie viele Personen auf diese Weise tatsächlich gerettet werden konnten. In einem Schreiben an das polnische Außenministerium im Exil schätzten die Leiter von Agudat Israel die Zahl der dank Lados und Kühl geretteten Personen 1945 auf mehrere Hundert.«
Shoshana Goldfinger berichtet dazu: »Uns ist bekannt, dass das von Reb Chaim Yisroel aufgebaute Netzwerk sich später (R.G: lange nach dem Tod von Eiss!) bewiesen hat, als Zehntausende von ungarischen Juden durch südamerikanische Ausweise gerettet wurden…«. Warum die Deutschen dabei mitgespielt hätten? »Historiker meinen, die Nazis hätten gegen Kriegsende gehofft, sich dadurch ihren eigenen Fluchtweg nach Südamerika vorzubereiten.«
Für manche Beteiligten ein lukratives Geschäft…
Ein Teil der lateinamerikanischen Konsuln, zum Beispiel Rudolf Hügli, ließ sich ihre Dienste teuer bezahlen. Die Juden und die Polen arbeiteten unentgeltlich. Mehr noch: der Ton der Korrespondenzen zwischen Eiss, Kühl und anderen mit den polnischen Diplomaten lässt große Empathie erkennen. Man sieht deutlich, dass Fragen wie Glaubenszugehörigkeit oder Nationalität völlig irrelevant sind. Die Gelder für diese Rettungsaktion seien laut Blechner jedenfalls zum Großteil aus Washington gekommen, über die dortige Botschaft der polnischen Exilregierung in London. Andere Quellen berichten auch von Spenden orthodoxer jüdischer Organisationen in Großbritannien und vor allem in den USA. Mit diesen Mitteln erwarben die Polen dann von Hügli die Pässe.
Interessant ist in diesem Zusammenhang folgendes mit dem 23.6.1941 datiertes, auf Hügli bezogenes Schreiben von Generalkonsul Walter Meyer, Zürich, an Dr. Karl Stucki, den Chef des Konsulardienstes der Schweizer Abteilung für Auswärtiges: »Den guten Glauben kann er für sich nicht in Anspruch nehmen, und wenn er geltend macht, er erteile die Visas nur aus Bedauern zu den armen Emigranten, denen er helfen möchte, so steht dies in umgekehrten Verhältnis zu der auf ihre Kosten angestrebten Bereicherung.«
In einem anderen Kontext, der nicht unbedingt mit Eiss‘ Rettungsunternehmen verbunden ist, heißt es im Aktenbericht des Untersuchungsrichteramtes II in Genf über die Ausstellung von falschen argentinischen Pässen (Bern,5.1.1945, RM/mol [Messerli?]) wie folgt: »Es handelt sich um die Abgabe von vier gefälschten Pässen an ungarische Staatsbürger, die trotz der Pässe deportiert wurden. Der Verwandte in der Schweiz, ein Herr Müller, habe aber 22,700 Schweizer Franken für die Pässe bezahlt.«
Laut Blechner haben die eingangs genannten Honorarkonsuls der südamerikanischen Staaten pro Pass 300 bis 500 Dollar einkassiert, wobei es sich, wie gesagt, um Tausende von Pässen handelte. Ob sie die Aktion auch ohne dieses beachtliche Nebeneinkommen unterstützt hätten, kann er nicht sagen, aber immerhin hätten diese Leute – mit Ausnahme des Honorarkonsuls von Paraguay − nach einer offiziellen Beschwerde der Schweizer Regierung bei ihren jeweiligen Außenministerien ihre Jobs und ihren Lebensunterhalt verloren.
Was soll mit dem Archiv weiter geschehen?
Nun hofft die dritte und vierte Generation der Familien Eiss und Herz auf die Herausgabe einer umfassenden historischen Studie über Chaim Israel Eiss und seine Rettungsaktion. Dazu Blechner: »Eiss‘ Angehörigen haben aber weder materiell noch kontaktmäßig die Ressourcen dazu. Die polnischen Diplomaten, mit denen ich gesprochen habe, haben ihre Unterstützung zugesagt, vielleicht werden aber noch weitere Sponsoren benötigt.«
Das segensreiche Wirken von Aleksander Ladoś und seinen Mitarbeitern an der Berner Gesandtschaft jedenfalls ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt und noch nicht gebührend gewürdigt worden.
Rachel Grünberger-Elbaz, geb. 1958 in München, lebt seit 1977 in Israel, wo sie zunächst ihren Studienabschluss in Soziologie, Anthropologie, Film und Fernsehen machte. Seit 1984 arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin und Dolmetscherin und ist als solche mit den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ihrer beiden Heimatländer – Israel und Deutschland – bestens vertraut. In jüngster Zeit ist sie auch publizistisch tätig. Rachel Grünberger ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Söhnen.
Von Rachel Grünberger-Elbaz